Dienstag, 24. November 2009

Rassenhygiene

Begründer: Der Schweizer Psychiater Auguste Forel, 1905 (Internetquelle nach Hineinkopieren nicht mehr auffindbar, vgl. Sexualdiskurs um 1900) -> Ursprünglich fand dieser Diskurs in der sexualfeindlichen Katholischen Kirche statt


Aus: Die Geschichte der Asylierung von Anormalen
„[Die] Gesellschaft aber hat Anspruch auf Schutz vor ihnen […]“


Heute möchte ich die stark gekürzte Rezension meines genannten Artikels veröffentlichen. Für inhaltliche Kritik bzw. Anregungen bin ich sehr froh.


Nachfolgend möchte ich die extremste aller Diskriminierungsarten von „Behinderten“ untersuchen. Ich versuche die Frage zu beantworten: wie, wann und vor allem: wieso kam es zur Geburt beziehungsweise zur Erfindung von - und gerade in der Schweiz noch heute massenweise vorhandenen, sehr kostspieligen und menschenverachtenden - „Heimen“ für „Behinderte“.
Der nachfolgende Aufsatz versteht sich als Beitrag zur disability history.
Die Suche nach dem Ursprung von Heimen führt uns zurück ins letzte Drittel des 19. Jahrhunderts. Der gesamte Sozialdarwinismus und besonders die daraus folgende Eugenik beruhten auf einem tüchtigen und folgenschweren Irrtum: Nämlich auf der in der Mitte des 19. Jahrhunderts entwickelten Degenerationstheorie.
Überdeutlich ist bei der Geschichte der Asylierung die stets präsente Sexualisierung. Deutlich erkennbar wird sie in der gesamten psychiatrischen Literatur des späten 19. Jahrhunderts. Der gesamte Heimdiskurs handelte sich um diese Frage, und nicht etwa darum, ob es günstiger sei, Anormale massenweise zu pflegen oder nicht.
Sehr wichtig für das Verstehen der dramatischen Geschichte der „Behinderten“, die ohne Zweifel ihren (praktischen) Höhepunkt in Nazi-Deutschland erlebte, ist der Umstand, dass die essentielle Unterscheidung zwischen geistiger, psychischer und körperlicher Behinderung sowie Sinnesbehinderung, bis vor Kurzem nicht existierte.
Die Bezeichnung „Behinderte“ ist keineswegs alt: Sie entstand während des eugenischen Diskurses.
Trotz der Einführung des Begriffs durch die Pro Infirmis, die aber weiterhin „alle Geisteskranken“ – was auch immer damit gemeint wurde – von jeglicher Unterstützung ausschloss, blieben andere Bezeichnungen bis Ende des 20. Jahrhunderts bestehen.

Erst seit dem Fin de Siècle unterschied man den „Menschen“ in gesund und krank beziehungsweise normal und anormal. Obwohl die Diskriminierung einzelner Behinderungen möglicherweise so alt wie das Menschengeschlecht ist, kann von einer systematischen Verfolgung und Segregation erst seit dem späteren 19. Jahrhundert, seit der späteren Aufklärung beziehungsweise als Folge der Industrialisierung, die Rede sein.


Asyle als eugenische Massnahmen

1938 meinte etwa der erste Inhaber des Lehrstuhls der Sonderpädagogik in Zürich und fleißige Redaktor der Zeitschrift der Pro Infirmis, Prof. Dr. Heinrich Hanselmann, dass für die nicht genügend zu schützenden Fälle von Anormalen nur die dauernde Internierung übrig bleibe. Er vergisst nicht zu betonen, dass sich dabei eine Sterilisierung wohl zumeist erübrigt. Seiner Meinung nach kommt entweder die Unterbringung in einer Irrenpflegeanstalt in Betracht, für andere Anormale müsste vielleicht die geeignete Anstalt erst noch erfunden werden. Denn eine selbstverständlich geschlechter-trennende Unterbringung schließe nämlich eine Fortpflanzung praktisch fast ganz aus.
Hanselmann war keineswegs ein Anhänger Adolf Hitlers und war – nicht nur theoretisch – kein Nazi. Die oben 1938 geäußerte Meinung war bei weitem kein ausschließlich persönlicher Vorschlag zur Dezimierung der Minderwertigen, sondern diese Ansicht war zu jener Zeit common sense, und zwar nicht nur im Dritten Reich, sondern in ganz Europa und Nordamerika.
Der Berner Privatdozent Stavros Zurukzoglu meint in seiner Aufsatzsammlung, die für eine Nachahmung des von den Nazis unmittelbar nach deren Machtergreifung eingeführten Sterilisationsgesetzes plädiert, dass als Mittel zur Verhinderung der Fortpflanzung von Anormalen neben der Sterilisation auch die Unterbringung in geschlossenen Anstalten in Frage komme. Der Zustand vieler Erbkranker sei nämlich ein solcher, dass eine Dauerversorgung in Anstalten unumgänglich sei. Dadurch werde zugleich auch die Verhütung erbkranken Nachwuchses erreicht. Und weiter schreibt Zurukzoglu: so sehe man dass die Asylierung nicht als Gegensatz zu anderen eugenischen Massnahmen aufzufassen ist. Und schließlich sei auch die Meinung falsch, dass durch eine Umgestaltung des Asylierungswesens andere Massnahmen entbehrlich würden.
An anderer Stelle versichert er: wenn man die Bestrebungen der Eugenik sinnvoll in das Gesamtgebiet der hygienischen Massnahmen einbetten und jenen, die die Sterilisation ablehnen die Handhabe für eine wirksame Eindämmung der Fortpflanzung Erbkranker in die Hand geben will, so müsse nach einer Lösung gesucht werden, die nicht auf die Sterilisation allein abzielt, sondern zur Verhütung erbkranken Nachwuchses unterstützende Massnahmen, wie Asylierung, Bewahrungsheime usw. mit einbezieht.
Zur selben Frage meinte 1934 der Nachfolger Eugen Beulers als Professor und Direktor der Zürcher Psychiatrie und außerdem Präsident des Zürcher Hülfsverein für Geisteskranke Hans Wolfgang Maier, dass das deutsche Vorgehen sicherlich auch für andere Länder einen interessanten Versuch darstellt. 1942 befand Maier, dass in Fällen wo es unerlässlich nötig ist, diesen Weg, die Sterilisation, zu beschreiten wenigstens keine Gesetze erlassen werden, die sie verbieten.
Doch woher kommt diese bizarre Ansicht? Die Beantwortung dieser Frage führt uns in die Zeit des späten 19. Jahrhunderts, in das von den Historikern sog.: Fin de Siècle, ins Zeitalter der Nervosität, in die Zeit um etwa 1880 zurück. In dieser Zeit der sozialdarwinistischen beziehungsweise morelschen Degenerationsangst entstanden die ersten Heime für Anormale, die tatsächlich so genannt wurden.

Im Bann des Entartungsparadigmas

Eines der Hauptgründe, die zur Entstehung der Behindertensegregation führte, war die im Fin de Siècle entstandene Degenerationsangst. Die in der Mitte des 19. Jahrhunderts vom französischen Psychiater Bénédict Augustin Morel erfundene und vom späteren Zionisten, dem deutschsprachigen Max Nordau übernommene Degenerationstheorie. Sie besagte im Wesentlichen, dass die Entartung im doppelten Sinn vererbt werden könne: sowohl körperlich wie auch moralisch und zweitens, dass die Entartung progressiv sei und zwar bis zum Aussterben der betroffenen Familien.
Sinngemäß fasste Morel seine Theorie folgendermaßen zusammen: Am Anfang treten in einer Familie psychische Abnormitäten und sittliche Verwahrlosung auf. In der folgenden Generation schließen sich schwere Neurosen und Alkoholismus an. In der dritten und vierten Generation kommen schwere geistige Störungen, angeborener Schwachsinn und Missbildungen aller Art hinzu. Durch Unfruchtbarkeit stirbt dann die betroffene Familie aus.
Gewichtig an der grundsätzlichen Veränderung des Zivilisationsdiskurses, wie sie besonders seit der Aufklärung geübt wurde, dass nämlich auch die moralische, ästhetische und intellektuelle Sphäre und damit auch andere Aspekte von Zivilisation dem Urteil des Arztes unterworfen werden, der sie, wie es seinem Amt entspricht, nach den Kriterien von gesund und krank unterscheidet. Damit wird bei Morel und seinen Nachfolgern der gesamte Diskurs um Entartung durch Zivilisation pathologisiert.
Wie seit anfangs des 19. Jahrhunderts in allen positivistisch beeinflussten Wissenschaften (in den Naturwissenschaften ebenso wie in der Soziologie und Medizin) modisch geworden, wurde jetzt bei allen Zivilisationsphänomenen (auch im Bereich des Moralischen, Kulturellen, Ästhetischen, Sozialen und Intellektuellen, genauso wie in der Biologie und Medizin) nur noch zwischen gesund und krank unterschieden. Das Normale war sonach gesund, das von der gedachten Norm abweichende, Anormale hingegen krank. Entartung durch Zivilisation, sei sie physische, moralische oder intellektuelle Entartung, war eine negative Normabweichung und galt nach den Regeln solchen Diskurses als krank. Die Zivilisationskritik Morels an der Entartung durch Zivilisation fand in den positivistisch orientierten Wissenschaften Anklang. Er veränderte die Rede von Entartung gleich in mehrfacher Hinsicht. Von Bedeutung war, auch für Nordau, der sich später auf Morel berief und den Begriff salonfähig machte, dass Entartung als Krankheit begriffen wurde, und zwar als Geisteskrankheit. Die Zivilisationskritik wurde damit zur Sache des Arztes, besonders des Psychiaters, die Phänomene von Entartung, gleich ob intellektuell, moralisch oder physisch, wurden Gegenstand der Pathologie und besonders der Psychopathologie.
„Der Arzt und Schriftsteller Max Nordau“, so schreibt Christoph Schulte, „kann sich daher mit vollem Recht innerhalb dieses durch Morel initiierten Diskurses zum Zivilisationskritiker geradezu berufen fühlen. Denn der Arzt, nicht mehr der Philosoph, der Jurist, der Priester oder der Politiker, diagnostiziert die Entartung durch Zivilisation und therapiert sie dann auch. Entartung im weitesten Sinn wird auf diese Weise zum Therapie-Objekt der Medizin, erst in zweiter Linie der Moral, des Rechts oder der Politik.“

Emil Kraepelin meinte 1918, dass es klar auf der Hand liege, dass unsere Gesittung der natürlichen Auslese, die nur die Tüchtigsten erhält und zur Fortpflanzung zulässt, wirksam entgegenarbeitet. Denn alle die zahlreichen Schöpfungen menschlichen Mitleids, die darauf abzielen, auch das Leben der Kranken, Schwachen, Untauglichen nach Möglichkeit zu erhalten und menschenwürdig zu gestalten hätten ohne Zweifel die ärgerliche Folge, dass sich unserem Nachwuchse dauernd ein breiter Strom minderwertiger Keime beimischt, der eine Verschlechterung der Rasse bedeutet. Schlussendlich ist es so, dass je vollkommener uns die Erfüllung unserer Menschenpflicht gegen die Elenden, Verirrten und Hilfslosen gelingt, desto nachhaltiger schädigen wir die Kraft unseres Volkstumes.
Man kann sich – sicherlich zu Recht - die naive Frage stellen, ob es denn vor dieser Zeit keine Behinderten gegeben hätte. Ähnlich wie die Frauenbewegung Sex und Gender trennt, so muss man auch hier differenzieren zwischen der naturgegebenen Behinderung einerseits und der Medizinalisierung der Behinderung beziehungsweise Behinderten andererseits, die vor dem 19. Jahrhundert schlichtweg nicht existierte. Die genannte Zeit ist der Beginn der Pathologisierung der vermeinten Gattung. Nach der Aufklärung, besonders während des 19. Jahrhunderts, wurden verschiedene Krankheiten erfunden, die es vorher nicht gab. Menschen mit einer Behinderung gab es natürlich schon immer und zwar – prozentual gesehen - viel mehr als heute; allein: sie wurden nicht als eine Gruppe identifiziert.
Und tatsächlich findet sich – im 12. Jahrhundert, im oft vermeinten finsteren Mittelalter, ein hervorragendes Beispiel, welches die Salutogenese („wie entsteht Gesundheit“) bewies und der dank persönlicher Assistenz zu einem der bedeutendsten Gelehrten des seiner Zeit wurde: Hermannus Contractus.


Rasse, Sex & Normalität

„Was ist der Rassismus letztendlich? Zunächst ein Mittel, um in diesen Bereich des Lebens, den die Macht in Beschlag genommen hat, eine Zäsur einzuführen: die Zäsur zwischen dem, was leben, und dem, was sterben muss.“

In diesem Kapitel möchte ich die These untersuchen, dass sich Rassismus und ‘Behinderte’ ähnlich verhalten wie Wasser und H2O: praktish besteht kein Unterschied.
Im Jahr 1800 kommt der 1772 der selbst ernannte Philosoph und Menschenfreund - Joseph-Marie Degérando zum Schluss, dass die Taubstummen im Grunde genommen nichts anderes sind als zivilisierte Wilde.
Dass die „Wilden“ unglücklicher als die zivilisierten Europäer wären, ihre Unterlegenheit erkannt hätten, sich mit Scham betrachten und ohne Unterlass nach europäischen und für sie unerreichbaren Idealen streben würden, war für ihn selbstverständlich.
Am Schluss er nicht, darauf hinzuweisen, dass es von wissenschaftlichem Wert wäre, einige dieser lebendigen Exemplare aus den Kolonalgebieten mit nach Hause zu nehmen.
Eine der bekanntesten „wissenschaftlichen Trophäen“ war die 1815 in Paris verstorbene Buschmännin Sarah Baartman, die über Jahre hinweg durch europäische Städte wegen der Größe ihres Gesäßes und ihrer Geschlechtsteile als Sinnbild der sexualisierten schwarzen Frau einem gut zahlenden Publikum vorgeführt wurde. Nach ihrem frühen Tod wurden ihre Genitalien anatomisch präpariert, wissenschaftlich beschrieben und weiterhin öffentlich ausgestellt. Ihre vergrößerten Schamlippen und vor allem ihr übergroßes Gesäß wurden zum Zeichen abwegiger weiblicher Sexualität von Schwarzen oder von Prostituierten und
Dieses Arrangement hat nicht nur auf den Jahrmärkten Tradition, wo schon seit dem späteren 16. und bis in den 20er Jahren des 20. Jahrhunderts Schwarze und andere sog. Monstra gezeigt wurden . Diese galten als Beweis der gottgegebenen Andersartigkeit der Anderen (nicht etwa nur die Hautfarbe, sondern das vollkommene Gegenteil).
Die Überzeugung von der grundsätzlichen Verschiedenheit und Inferiorität vor allem der „Neger“ war im 19. und auch im 20. Jahrhundert selbstverständliche Annahme.
Eine Vielzahl von Ethnien in Süd- und Nordamerika, in Afrika und in Australien wurde seit Anfang der 30er Jahre des 19. Jahrhunderts verjagt, umgesiedelt und buchstäblich ausgelöscht. So beispielsweise der vollständige Genozid an den Tasmaniern, ein im 19. Jahrhundert oft genanntes Beispiel für die evidente „biologische“ Überlegenheit der weißen Rasse:
Darwin hatte sich – als er seine These vom schicksalsbestimmten Untergang bestimmter Rassen formulierte – auf allgemein bekannte historische Ereignisse bezogen. Gelegentlich war er selbst Augenzeuge gewesen. So beispielsweise 1833 auf einer Südamerikaexpedition in Argentinien: Darwin erlebte Menschenjagden auf die Indios und die Gräuel der massenhaften Ermordung mit, nachdem die argentinische Regierung kurz zuvor beschlossen hatte, die Indianer der Pampa auszurotten. Er war zwar zutiefst abgestoßen von den blutverschmierten Soldaten, die er am Colorado River mitten in ihrer grausamen Indianerjagd getroffen hatte. Aber auch er bekundete später schriftlich, dass solche Ausrottungsfeldzüge gegen mindere Rassen wohl unvermeidlich seien. In seinem Buch die Abstammung des Menschen von 1871 vertritt er die Ansicht, dass in einer künftigen Zeit, die seiner Meinung nach nicht einmal sehr weit entfernt sei, die zivilisierten Rassen der Menschheit wohl sicher die wilden Rassen auf der ganzen Erde ausgerottet und ersetzt haben werden.
Der genannte Knox gab zur Erklärung, wieso die dunkle Rasse minderwertig sei, folgende Antwort:
„Ich kann mir das nicht anders erklären, als dass die dunklen Rassen physisch und damit auch psychisch unterlegen sind. – Was weniger auf ein geringeres Gehirnvolumen als auf eine geringere Qualität der Gehirnsubstanz zurückzuführen sei. Das Gewebe des Gehirns, so scheint mir, ist bei dunkelhäutigen Rassen im Allgemeinen dunkler, der weiße Teil faseriger; allerdings beruht diese Beobachtung leider auf extrem begrenzten Erfahrungen.“
Wie begrenzt diese Erfahrungen waren, bestätigt er an anderer Stelle. Dort meint Knox, er habe lediglich einen einzigen Farbigen obduziert. In den Armen und Beinen dieses Körpers jedoch hätten sich nur zwei Drittel der Nerven gefunden, die ein Weißer von derselben Größe habe. Damit lag für ihn auf der Hand, dass auch die Seele, der Instinkt und der Verstand der beiden Rassen in einem solchen Verhältnis zueinander stehen müssten.
Der als Begründer der Eugenik bekannte Francis Galton, ein Vetter Darwins, weitete die Vorstellung, dass tieferstehende Menschen in der Zukunft kein Lebensrecht mehr hätten, auf Kriterien innerhalb der zivilisierten Rasse aus. Die als minderwertig Eingestuften, waren für ihn nicht nur die Wilden, sondern auch kranke und schwache Angehörige der zivilisierten Welt. Die Zivilisation selber sei verweichlichend und fördere die Kranken und Schwachen. Damit aber sei das gemeinsame Ziel der beiden Vettern, die Vorherrschaft der Zivilisierten gerade durch die Zivilisation selber in Gefahr. Es gelte also innerhalb der zivilisierten Welt ebenfalls die Wilden auszumerzen, damit diese sowohl zivilisiert, als auch gesund und stark bleibe, beziehungsweise wie Galton es ausdrückte, sich als „fit“ erweise.
Die Auslöschung einer artfremden Rasse setzte er nicht zwangsläufig mit Leid gleich: sie habe eher – so Galton - etwas mit Apathie und Lustlosigkeit zu tun. Nachdem sie mit der Zivilisation in Kontakt gekommen seien, verlören die Generationen offenbar das Interesse aneinander. Das habe zur Folge, dass sich die Zahl ihrer Nachkommen verringere: Ein unglückseliger Umstand, der trotzdem kaum als Leid bezeichnet werden kann.
Der Leipziger Medizinprofessor Carl Reclam setzte in Der Leib des Menschen an den Platz zwischen den (weißen) Menschen und den tierischen Vorfahren als Form des biologischen Übergangs nicht wie üblich den Neger oder Wilden, sondern die Blödsinnigen, die Kretinen, die Troddeln und die Mikrocephalen, die er allesamt schlicht Affenmenschen nennt.
Benjamin Kidd legte 1894 dar, wie unvergleichlich effizient die Angelsachsen bei der Auslöschung der unterentwickelten Völker vorgingen. Instinktiv würden sie in die Fremde gehen, um dort die natürlichen Ressourcen zu erschließen – mit Begleiterscheinungen, die leider Gottes, unvermeidlich waren und sind. Für jene Rasse, die in diesem Kampf die Oberhand behalten wollte, werde die Ausrottung anderer Rassen zu einer harten, aber unumgänglichen Bedingung. Natürlich – so meint er – könnte man in Ausnahmefällen die Sache auch menschlicher gestalten; grundsätzlich ändern aber ließen sie sich nicht.
August Forel schildert eine Reise von Jamaika nach Barbados im Jahre 1896:
Es waren da eine Menge Neger und Mulatten aus Haiti, deren kindisches Geschwätz (in Französisch) rein zum Kranklachen war. Man wollte mich in eine Kajüte mit zwei Negern zusammenstecken. Ich konnte aber den Negergestank nicht ertragen.
Weiter behauptet derselbe, es gäbe Menschen, die zwar zoologisch zur Species homo sapiens gehören, weil sie leider mit den Kulturmenschen noch Mischprodukte gäben. Diese Wesen seien aber in geistiger Beziehung so minderwertig, dass sie nur zu einer ganz niedrigen Kulturstufe fähig seien. Ihr Gehirn sei nämlich viel kleiner als das unsrige. Dazu nennt er zwei – seiner Ansicht nach - typische Völker dieser Art, die er aber als nicht gefährlich einstuft, denn sie seien sowieso dem sicheren Untergang geweiht. Für viel gefährlicher hält Forel gewisse Menschenrassen, wie vor allem die Neger, die körperlich kräftig und zähe, außerordentlich fruchtbar, dabei aber geistig minderwertig seien; und zwar auch wenn„sie sich unserer Kultur in gelehriger Weise sehr gerne anschmiegen.
1911 führte Eugen Bleuler die „Schizophrenie“ – seine Wortschöpfung – mit großem Erfolg in die Psychiatrie ein. Eine ähnliche Karriere wie die „Schizophrenie“ – wenn auch weniger erfolgreich – machte die von Bleulers Schüler und Nachfolger Hans W. Maier bereits in seiner Dissertation erfundene Diagnose moralischer Schwachsinn beziehungsweise moralische Idiotie. Seiner Meinung nach war die Behandlung dieser moralisch Defekte ganz aussichtslos. Darum empfahl er, dass ihre Tötung auch in seiner Zeit noch das Vernünftigste und für alle Teile Schonendste wäre. Wenn nur der hier durchaus unangebrachte Begriff der Strafe nicht stets damit verbunden wäre und Gründe der allgemeinen Moral gebieterisch dagegen sprächen.
Wenn nicht die Tötung, so sollte wenigstens die straflose Sterilisation auf keinen Fall unterlassen werden: Die direkte Heredität sei nämlich entschieden die wichtigste Ursache des krankhaften Zustandes. Darum sei es sehr wichtig, diese Kranken an der Fortpflanzung zu hindern. Da aber unter seinen damaligen Verhältnissen, weder Gefängnis noch Anstalt dafür absolute Garantie bilden würden, hätte die Gesellschaft nicht nur das Recht, sondern seines Erachtens auch die Pflicht, hier möglichst bald die zwangsweise Sterilisierung zu dekretieren.
Eine – sehr willkürliche, von der Laune des behandelnden Psychiaters abhängende – Diagnose reichte aus, um einer schwangeren Patientin einen Abort mit der obligaten Sterilisation oder keineswegs ungefährlichen Kastration anzuraten, mit einem Eheverbot zu belegen und sie für den Rest ihres Lebens in eine Psychiatrie zu sperren, wo unter anderem Briefzensur, Isolation, Zwangsjacken, Insulinkur , zehntägige Schlafkur, Wickel, psychochirurgische Eingriffe, Dauer- und Deckelbad, „schwarze Spritzen“ mit unbekanntem Inhalt (die Erbrechen während fünf Stunden bewirkten), Hormontherapien, Schläge und andere Zwangsmassnahmen auf sie warteten.
Zwar sanken die eugenischen Massnahmen (Eheverbote, Aborte, Sterilisation und Kastration) nach 1945, wurden aber dennoch, jetzt ohne öffentliche Begleitpropaganda, nun still und schweigend, zum großen Teil von den gleichen Akteuren, weitergeführt.
So schrieb 1969 der Oberarzt der Frauenklinik in Graz:
Heute wird die Sterilisation in diesem Lande [gemeint ist die Schweiz] nach mehreren schweren Geburten und körperlicher Erschöpfung, beim zweiten beziehungsweise dritten Kaiserschnitt, bei Vielgebärenden, chronisch Kranken und Psychopathen sowie bei Frauen in schlechten sozialen Verhältnissen durchgeführt […], wobei man behördlicherseits den Standpunkt vertritt, dass die Sterilisation aus medizinischen oder eugenischen Gründen eine rein ärztliche Angelegenheit sei.
Die Kontinuität der Schweizer Eugenik bestand jedoch nicht nur in der Praxis weiter, auch die eugenische Diskussion wurde nach 1945 fortgeführt.
In seinem 1945 veröffentlichten Aufsatz, in welchem er deutlich an der Theorie von unwertem Leben festhielt, meinte der bereits erwähnte Jurist Oswald Rohrer:
Im Wesentlichen würde die dritte Schicht von Behinderten die Blödsinnigen aller Grade und Variationen von da an, wo die menschliche Intelligenz erlischt, bis hinunter zu einem rein vegetierenden Dasein umfassen. In den untern Lagen dieser Schicht stellt jedes einzelne Individuum eine Last für seine Umgebung beziehungsweise für die menschliche Gesellschaft insofern dar, als es eine große Summe von pflegerischer Kraft und Mitteln verbraucht, ohne dass dieser Aufwand einem geringsten Gegenwert entsprechen würde, und vor allem, ohne dass dieses Individuum selbst irgendeinen menschlichen Genuss von seinem Leben hätte.
1946 publizierte der Berner Psychiater Jakob Wyrsch seine Gerichtliche Psychiatrie, worin er weiterhin auf eugenische Zwecke von Sterilisation und Kastration verwies.
Die Schweizer Ärztin Paulette Brupbacher meinte in ihrer 1953 erschienen Schrift über die Legalisierung des Schwangerschaftsabbruchs, ohne eugenische Indikation würde der Gemeinschaft die Erhaltung körperlich oder geistig unbrauchbarer, lebensuntauglicher Elemente zugemutet, die, nirgends eingereiht, ihr nutz- und freudloses Dasein in Heimen verdämmern.
Unangefochten und besonders aktiv blieb der zum Professor an der Universität Zürich avancierte, Präsident des Zürcher Kantonsrats und ehemalige Mitherausgeber des Nazistandardwerks Handbuch der Erbbiologie des Menschen Ernst Hanhart. Er erforschte weiterhin die Erbbiologie von Gehörlosen, von Mongoloiden 1960 und notierte noch in den 70er Jahren stolz die Erfolge von Eugenischen Beratungen. Seine Studenten durchsuchten die Bevölkerung von Bergdörfern nach verdächtigen Sippen.


Die Sexuelle Anomalie

1946 teilte Jakob Wyrsch die sexuellen Verirrungen und die Sexualneurose ein in: Exhibitionismus, Sadismus und Masochismus, Pädophilie, Sodomie (Bestialität), Fetischismus, Nekrophilie, Transvestismus, Homosexualität - von denen die meisten oder wenigstens viele an sich schon psychopathisch veranlagt sind - und Hermaphroditismus. ¨
Überall handle es sich nämlich nur um Ersatzbefriedigung für das normale Sexualziel, die Vereinigung mit dem Geschlechtspartner, die aus neurotischen Gründen nicht erreicht wird. Diese Anomalien seien durch strickte Enthaltung - oder noch besser: durch Psychotherapie beziehungsweise eine Anweisung in einer Psychiatrie - zu heilen. Da auch die Erwartungen, die man noch zwanzig Jahre zuvor an die „Implantation eines fremden Hodens bei Homosexuellen“ geknüpft hatte, sich nicht erfüllt hätten, empfiehlt er auch diese Methode nicht.
Im 19. und 20. Jahrhundert befürchtete man, dass durch die Selbstbefriedigung vor allem der männliche Körper so viel Energie verlieren würde, dass der physische und geistige Zerfall schon in jungen Jahren unausweichlich sei.
Diese bizarre Imagination, die die Männer der Jahrhunderte zuweilen tatsächlich in Panik versetzte, fand ihre pseudo-wissenschaftliche Grundlage in der Dissertation von Samuel Auguste Tissot aus Lausanne über die Gefahr des Onanisme: eine sexuelle Energielehre des männlichen Körpers, die von 1760 bis 1905 immer wieder neu aufgelegt und in der gesamten hygienischen, psychiatrischen und medizinischen Literatur der Zeit zitiert wurde.
Zur Verhinderung der von ihm erfundenen ‚Schizophrenie’, empfiehlt Eugen Bleuler: Selbstbefriedigung, Liebesgram, Überanstrengung, Schreck vermeiden könne er mit gutem Gewissen anraten, weil es sicher auch sonst gut ist, sich vor diesen Dingen zu hüten. Dass jemals durch solche Vorsicht eine Schizophrenie am Ausbrechen verhindert wurde, sei nicht zu belegen. Allerdings werde man ja unter Umständen kaum jemals ganz auf die diätetische Bekämpfung der Onanie verzichten und daneben kühles und nicht zu weiches Lager verordnen.
Nach Eugen Bleuler ist die Onanie nicht nur ein Symptom seiner ‚Schizophrenie’, sondern auch die Hauptursache dafür: zur Behandlung von Patienten empfiehlt er die Sterilisation.
Für die Psychiatrie des beginnenden 20. Jahrhunderts galt nicht nur die ‚Onanie’ als Krankheit und klares Zeichen für die Zugehörigkeit zur Gruppe der ‚Anormalen’, auch andere sexuelle ‚Perversionen’ suchte man mit Sanktionen zu belegen; besonders gilt es – da ja bekanntlich alle Abartigkeiten als vererbt angenommen wurden – die Fortpflanzung zu verhindern. So für den Sadisten, der schwerste soziale Schäden verursache und den Masochisten:
Ist ein Masochist mit einer Sadistin verheiratet, so ist ja den beiderseitigen Wünschen Rechnung getragen und in der Regel eine Einmischung in die Ehe völlig unnötig. Bedenklicher schon ist die Fortpflanzung solcher Paare, da wir unter ihren Nachkommen eben häufig konstitutionell Abnorme finden. So hatte z. B. nach einer eigenen Beobachtung ein masochistischer Mann, der erst dann zum Beischlaf fähig war, wenn er mit Sporen blutig geschlagen wurde, mit seiner sadistischen Frau zwei Söhne gezeugt. Der eine ist ein minderwertiger Homosexueller, der andere geisteskrank (Schizophrenie) in einer Anstalt gestorben.
Wie bei der sexuellen Anomalie schlechthin, sah er auch die Ursachen der Homosexualität (männliche und weibliche Urnings) im Alkoholmissbrauch.
Forel notiert eine tragische Geschichte über zwei weibliche ‚Urnings’:
Er erzählt einen angeblich selbst beobachteten und für ihn gänzlich unverständlichen Fall von zwei „schwärmerisch verliebten Urnings“:
Ein normales Mädchen wurde von einem als Mann verkleideten weiblichen Urning getäuscht und in ein Liebesverhältnis verwickelt, das in einer formellen Verlobung seinen vorläufigen Abschluss fand. Später wurde die Betrügerin ertappt, verhaftet und dann zur Beobachtung in die Irrenanstalt versetzt. Gänzlich fassungslos notiert Forel, dass das normale Mädchen auch nach ihrer Entlarvung verliebt blieb und besuchte ihren ‚Liebling’, der, nun weiblich gekleidet, ihr um den Hals fiel und sie in einer erotisch wollüstigen Weise, die kaum zu beschreiben ist, vor allen Leuten abküsste.
Die angebliche Betrügerin wurde also in die Psychiatrie gesteckt, sehr wahrscheinlich für den Rest ihres Lebens. Wieso das? Forel begründet solche Schritte folgendermaßen:
Die Nachstellung von Homosexualität wäre zwar ebenso wenig wie jene von ‚Geisteskranken’ ein Anlass zur Verfolgung. Die Gesellschaft müsse aber, wie vor den ‚Kranken’ so auch vor den ‚Urnings’ geschützt werden. Beide hätten nämlich „Anspruch auf unsere Hilfe und Verständnis, die Gesellschaft aber hat Anspruch auf Schutz vor ihnen, soweit ihr Schaden droht.“
Alle Sexualstraftäter sind geisteskrank lautet ein gängiges Vorurteil. Bleuler kehrte diese (eventuell) banale Wahrheit um und zog den fatalen Schluss, dass alle Geisteskranke, alle Anormale auch Sexualverbrecher seien. Zur Lösung dieses Problems, schlug er: die Vernichtung aller Anormalen vor. Mit der Hinrichtung würde nämlich – so Bleuler – die Gesellschaft einerseits von der Sorge über die Delinquenten befreit und zudem verändere sie die Zeugung einer ähnlich gearteten Nachkommenschaft.